Von erstaunlichen Trends bei Fischen und was harmonische Daten mit der neuen Roten Liste zu tun haben

Ein Interview mit Dr. Martin Friedrichs-Manthey, Wissenschaftler und Mitautor der neuen Roten Liste der Süßwasserfische und Neunaugen Deutschlands.

Der Leiter der Datenauswertung verrät im Interview, warum diese Daten so wertvoll für die Rote Liste sind und wie man es vermeidet, bei der Auswertung von 200.000 Daten in Kasachstan zu landen. Er spricht über ungehobene Datenschätze und erläutert, was den Fischen in Deutschland das Leben schwer macht.

Herr Dr. Friedrichs-Manthey, was unterscheidet die neue Rote Liste von der bisherigen?

Zum ersten Mal wurden für eine nationale Rote Liste der Fische und Neunaugen konkrete Zahlen zur Verbreitung und zu den Populationsgrößen der Fischarten in Deutschland zusammengetragen und ausgewertet. Und zwar Daten der letzten 17 Jahre (2004 bis 2020), aus rund 15.000 Messstellen, die mindestens zweimal beprobt wurden, mit mehr als 200.000 einzelnen Datensätzen. Damit konnten wir den kurzfristigen Bestandstrend – also die Entwicklung der Populationsgrößen – für große Teile Deutschlands auf eine solide Datenbasis stellen.

Daten zur Fischpopulationen werden auch durch Angeln erhoben. Foto: Dr. Martin Friedrichs-Manthey

Daten zu Fischpopulationen werden auch durch Angeln erhoben.

Foto: Fabian Strasdas

200.000 Messdaten – da standen Ihre Füße sicherlich oft im Wasser?

Wir mussten uns zum Glück nicht selbst in den Fluss stellen, sondern konnten Daten aus den Bundesländern verwenden – wobei ich persönlich durchaus gerne am und im Wasser unterwegs bin. Seit dem Jahr 2000 werden zum Beispiel im Rahmen der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie, kurz WRRL, aber auch für viel andere Projekte der Zustand von Gewässern beobachtet und Zahlen zu Fischbeständen erhoben.

Das hört sich zunächst mal einfach an, war aber viel aufwändiger, als wir vorher vermutet hatten. Jörg Freyhof, Hauptautor der Roten Liste der Fische und Neunaugen, hat dafür alle Landesämter, Fischereiämter und andere zuständigen Stellen angesprochen. Die waren unheimlich kooperativ, so dass wir in kurzer Zeit die WRRL-Daten aus 15 Bundesländern hatten. Das war der leichte Teil. Die große Herausforderung lag dann darin, die Daten miteinander zu harmonisieren und zu verifizieren, damit man nicht in Kasachstan landet.

Harmonische Daten und ein Ausflug nach Kasachstan – das hört sich abenteuerlich an...

Räumliche Verteilung der Messstellen in Deutschland nach Harmonisierung der Einzeldatensätze. Einige Bundesländer stellten keine oder wenige Daten zur Verfügung. Bild: Rote Liste; BfN/RLZ

Räumliche Verteilung der Messstellen in Deutschland nach Harmonisierung der Einzeldatensätze. Nur wenige Bundesländer stellten keine Daten zur Verfügung.

Bild: Rote Liste, BfN/RLZ

Mit „harmonisieren“ meine ich, dass wir die vorhandenen Daten in eine einheitliche Form bringen mussten, um sie für eine deutschlandweite Rote Liste verwenden zu können. Man braucht unter anderem einheitliche wissenschaftliche Artnamen – also keine veralteten Namen oder Trivialnamen – aber auch die jeweiligen Standorte der Funde müssen natürlich plausibel sein. Tippfehler sind dabei leider häufig ein Problem. Nur eine falsche Ziffer in den Geodaten – schon landet man auf der Karte in Kasachstan. Da die Bundesländer unterschiedliche Georeferenzsysteme verwenden, haben wir für diesen Arbeitsschritt einen Experten für Geodaten hinzugezogen. Es war also eine Menge Handarbeit und Fachwissen nötig, bevor wir die mehr als 200.000 Datensätze soweit aufbereitet hatten, dass wir sie in ein Auswertungsprogramm eingeben konnten.

Der kurzfristige Bestandstrend ist nur ein Baustein, um die Gefährdung der Arten zu ermitteln. Was wurde noch betrachtet?

Um zum Beispiel den langfristigen Bestandstrend, das heißt die letzten 150 Jahre, zu beurteilen, ist Expert:innenwissen gefragt. Auch Besonderheiten bei der Entwicklung einzelner Fischarten, Ursachen der Gefährdung und mögliche Schutzmaßnahmen können nur von Fachleuten beurteilt werden. Jörg Freyhof – sicherlich einer von Deutschlands besten Fischkennern – hat dafür Workshops mit 59 Expertinnen und Experten aus allen Bundesländern durchgeführt. Die Erkenntnisse wurden in ein IT-Tool zur Gefährdungsanalyse überführt, das das Rote-Liste-Zentrum zusammen mit dem Bundesamt für Naturschutz entwickelt hat.

Laut neuer Roter Liste hat sich der Zustand der Fische deutlich verschlechtert. Was hat Sie besonders überrascht?

  Der in vielen Seen und Flüssen verbreitete Kaulbarsch (Gymnocephalus cernua) befindet sich nun auf der „Vorwarnliste“.  Foto: Jörg Freyhof

Der in vielen Seen und Flüssen verbreitete Kaulbarsch (Gymnocephalus cernua) befindet sich nun auf der „Vorwarnliste“.

Foto: Jörg Freyhof

In der Tat sind in der aktuellen Roten Liste nahezu doppelt so viele Arten gefährdet als noch 2009, dem Erscheinungsjahr der letzten Roten Liste. Während es 2009 noch 22 Arten waren, sind es jetzt 38 Arten. Erstaunlich ist, dass es bei den kurzfristigen datenbasierten Bestandstrends keinen gravierenden Unterschied zwischen häufigen und seltenen Arten gibt oder zwischen geschützten und nicht geschützten Arten: Überall gibt es positive und negative Entwicklungen. Wichtig ist hier allerdings auch, dass wir nicht für alle Arten genügend Daten hatten, um robuste Modelle erstellen zu können. Somit sind zum Beispiel ohnehin seltene oder sehr seltene Arten, oder Arten, die nur schwer zu entdecken sind, unterrepräsentiert bei den Daten-basierten kurzfristigen Bestandstrends. Auch das macht Expert:innen-Einschätzungen so wichtig.

Was macht den Fischen das Leben schwer?

  Äschen sind gut an der bunten Rückenflosse zu erkennen.  Foto: Andreas Wenzel

Den kälteliebenden Äschen macht der Klimawandel zu schaffen. Sie gelten als stark gefährdet.

Foto: Andreas Wenzel

Das größte Problem für einen Fisch ist, wenn sein Lebensraum verloren geht. Wenn zum Beispiel Flüsse eng eingedeicht sind und es keine Nebenarme mehr gibt, gehen für viele Flussfischarten wichtige Laichhabitate verloren. Auch höhere Wassertemperaturen als Folge des Klimawandels sind für sehr viele Arten ein Problem – besonders in Sommern mit lang andauernden Hitzeperioden kommen sie an ihre physiologischen Grenzen – immer häufiger „kippen“ Gewässer und es kommt zu größeren Fischsterben. Übrigens, hierzu gibt es kein Monitoring. Meines Wissens werden keine Daten erhoben, wo und wie häufig Gewässer in Deutschland “kippen” und es gibt schon gar keine Erhebungen, welche Fischarten besonders betroffen sind. Gewässerverschmutzung, insbesondere durch Pestizide, sind eine Gefährdungsursache, ebenso wie der Ausbau und die Regulierung von Gewässern. Selbst kleine Wasserkraftwerke machen wandernden Fischarten das Leben schwer. Darüber hinaus machen invasive Arten und eine starke Zunahme fischfressender Räuber den Süßwasserfischen Deutschlands zu schaffen.

Was kann der einzelne Bürger und die Bürgerin, was kann die Forschung tun, um den Fischen zu helfen?

Die großen Herausforderungen im Naturschutz können nur gemeinsam mit der Politik und der Gesellschaft bewältigt werden. An vielen Stellen hat bereits ein Umdenken stattgefunden: Gewässerbegradigungen werden rückgebaut, Seen und Flüsse renaturiert. Auch Vereine und Organisationen sind ehrenamtlich zugange, um auch kleine Gewässer wieder lebenswert zu machen.

Der Wolgazander ist eine invasive Art, die sich immer weiter ausbreitet. Dr. Martin Friedrichs-Manthey – hier im Bild – hat dazu ein Projekt initiiert. Foto: Dr. Martin Friedrichs-Manthey

Der Wolgazander ist eine invasive Art, die sich immer weiter ausbreitet. Dr. Friedrichs-Manthey – hier im Bild – hat ein Projekt dazu initiiert.

Foto: Dr. Martin Friedrichs-Manthey

In meinen Augen müssten wir aber noch viel mehr Daten zum Beispiel aus Altbeständen mobilisieren und neu aufgenommene Daten in strukturierter Form, im Idealfall FAIR+, zur Verfügung stellen – das Akronym FAIR steht für findable (auffindbar), accessible (zugänglich), interoperable (interoperabel) und reusable (wiederverwendbar) und das Plus für open access (freier Zugang). Es ist im Unterschied zu anderen Tierarten viel schwerer, Fische zu beobachten und Daten zu erheben, da man dafür zum Beispiel in die Gewässer hineingehen muss. Daher zählt jeder Nachweispunkt. Aber es existiert auch schon viel Datenmaterial, weil es schon immer großes Interesse an unseren Gewässern gab, und das muss “nur” geborgen werden, damit wir bessere Analysen bekommen und Naturschutzmaßnahmen besser priorisieren können.

Sowohl bei der Renaturierung, als auch bei den Daten können uns Citizen Science oder Bürgerwissenschaft unglaublich weiterhelfen. Bürgerinnen und Bürger können zum Beispiel Daten liefern, die sonst kaum erschlossen werden, außerdem schärft die Teilnahme an wissenschaftlichen Projekten das Umweltbewusstsein. Ein paar Beispiele: Beim Projekt „Tauchen für den Naturschutz“ des NABU werden ehrenamtlich Taucher:innen ausgebildet, um Unterwasserpflanzen zu kartieren. Das Projekt FLOW vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung arbeitet bundesweit mit 900 Freiwilligen, um den ökologischen Zustand und die Pestizidbelastung von Bächen in ihrer Umgebung zu untersuchen und standardisierte Daten zu sammeln. Die Qualität der Daten ist ähnlich hoch wie bei wissenschaftlichen Erhebungen. Eine Riesenressource!

Ein Grundproblem von derartigen Projekten – und es gibt da noch viele, viele mehr –ist jedoch häufig, dass Datenflüsse zum Beispiel zu Behörden oder anderen relevanten Einrichtungen oft nicht gegeben sind. Darum ist in meinen Augen der Aufbau der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur für Biodiversität so wichtig. In „NFDI4Biodiversity“ entwickeln wir handfeste Prozesse, um Daten für Naturschutz, Politik, Forschung und auch Gesellschaft nutzbar zu machen. Dazu zählen neben einem einfachen Zugang zu den Daten natürlich auch eine gute Dokumentation der Daten, sowie eine dauerhafte Archivierung (Stichwort FAIR data). Mein Engagement in der Datenharmonisierung für die Rote Liste der Süßwasserfische wurde zum Beispiel aus NFDI-Mitteln finanziert. Im Teilprojekt „Lebendiger Atlas – Natur Deutschland“ bauen wir gerade ein Portal auf, welches Vorkommensdaten aus ganz verschiedenen Quellen und taxonomischen Gruppen zusammenführt, verfügbar und sichtbar macht.

Wie verträgt sich das Angeln mit der Forschung und dem Artenschutz?

Ich bin selbst Angler und begegne dabei Menschen, die sich dafür einsetzen, die Qualität von Gewässern zu verbessern – Anglerverbände sind anerkannte Naturschutzverbände. Auch wenn es da je nach Sichtweise Unterschiede gibt, was „Schutz der Gewässer“ genau bedeutet, ist die generelle Richtung doch sehr klar.

Bei den Anglerinnen und Anglern in Deutschland sehe ich ein großes Potenzial für Forschungsdaten zu Fischvorkommen und Gewässern im Allgemeinen. Aber auch für Nachwuchsexperten und -expertinnen – sie haben bereits Artenkenntnis und sind intrinsisch zum Artenschutz motiviert. Einige Angelnde beschäftigen sich natürlich bereits wissenschaftlich mit Fischen, auch wenn sie bisher erst selten den Weg in Fachgesellschaften, wie die Gesellschaft für Ichthyologie, gefunden haben.

Ich selbst habe im Sommer mit dem Projekt „GewässerDetektive“ die Angel-Community dazu aufgerufen, gemeinsam gezielt den nicht-heimischen – und übrigens sehr wahrscheinlich durch Fischbesatz eingeschleppten – Wolgazander zu angeln. Die gewonnenen Daten haben wir per iNaturalist veröffentlicht und sie sind somit für alle interessierten Personen verfügbar, auch in unserem „Lebendigen Atlas der Natur Deutschland“. Zu dieser Fischart gibt es immer noch kaum Daten, da sie sich zum einen hauptsächlich in künstlichen Gewässern wie Kanälen aufhält – Kanäle werden aber nicht im Monitoring der WRRL berücksichtigt. Zum anderen veröffentlichen andere Citizen Science Projekte ihre Daten nicht zeitnah oder überhaupt nicht. Von den Kanälen aus breitet sich der Wolgazander jedoch auch immer weiter in angrenzende Flüsse aus – erste Exemplare wurden zum Beispiel bereits in der Elbe gefangen.

Neben dem wissenschaftlichen Interesse an meinen Fängen ist Angeln für mich auch entspannend. Wussten Sie, dass man sich in England Angeln als Stressbewältigungstherapie verschreiben lassen kann? Zu so einer Anerkennung für das Angeln würde ich in Deutschland natürlich auch gerne kommen, weshalb wir in unserer Arbeitsgruppe rund um die Professorin Aletta Bonn am iDiv auch in dieser Richtung Forschung betreiben.

Zum Schluss noch zwei  persönliche Fragen: Haben Sie einen Lieblingsfisch? Und wo würden Sie gerne leben, wenn Sie ein Fisch wären?

Die Forelle (Salmo trutta) erscheint in drei „ökologische Formen“ Bachforelle, Meerforelle, Seeforelle und wird nun als gefährdet eingestuft. Bild: Jörg Freyhof

Die Forelle (Salmo trutta) erscheint in den drei „ökologischen Formen“ Bachforelle, Meerforelle, Seeforelle und wird nun als gefährdet eingestuft.

Bild: Jörg Freyhof

Als Wissenschaftler finde ich Forellen in ihren verschiedenen Ausprägungen spannend, aber auch den Aal und seine Wanderbewegungen. Beim Angeln freue ich mich besonders, wenn ich einen Wolgazander erwische: Diesen invasiven Fisch kann man guten Gewissens entnehmen und er ist ein sehr guter Speisefisch.

Wenn ich ein Fisch wäre und an einem großen Fluss leben wollte, würde mir die Elbe gefallen – als ehemaliger Grenzfluss ist sie noch weitgehend unverbaut.


Das Interview mit Dr. Martin Friedrichs-Manthey führte Petra Richter vom Rote-Liste-Zentrum.

Weitere Informationen

Rote Liste der Süßwasserfische und Neunaugen

Rote Liste der Süßwasserfische und Neunaugen

BfN/RLZ

Dr. Martin Friedrichs-Manthey

Der Wissenschaftler ist Mitautor der Roten Liste der Süßwasserfische und Neunaugen Deutschlands und leitete die Datenauswertung für den kurzfristigen Bestandstrend. Er ist am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig, der Friedrich-Schiller-Universität Jena und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung  tätig und unterstützt als Community-Coordinator den Aufbau der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur für Biodiversität. Sein Forschungsschwerpunkt liegt bei den Binnengewässern und Fischen. Hier interessiert er sich vor allem für langfristige Entwicklungen von Populationsgrößen verschiedener Taxa und für die Effekte des Klimawandels auf heimische Fischbestände.

Kontakt zu Dr. Martin Friedrichs-Manthey