Digitalisierung von 30.000 Karteikarten mit historischen Pilzdaten

Historische Funddaten von Arten gibt es viele, aber sie befinden sich oft in langen analogen Listen, in handschriftlichen Karteien von Museen und Sammlungen oder in privatem Besitz. Dies macht die Nutzung der Daten für die Forschung und insbesondere die Gefährdungseinschätzung im Rahmen der Rote-Liste-Erstellung mühsam. Das Rote-Liste-Zentrum unterstützte Fachleute deshalb darin, mehr als 30.000 handschriftliche Karteikarten mit Funddaten zu phytoparasitischen Kleinpilzen zu digitalisieren.

45 Jahre Expertenwissen bleiben erhalten und werden für die Forschung zugänglich

Für die neue Rote Liste der phytoparasitischen Kleinpilze erfasste der Pilz-Experte Dr. Martin Schmidt im Auftrag des Rote-Liste-Zentrums ca. 30.000 Karteikarten aus der „Kartei Jage“ und wandelte diese in digitale Daten um. Die „Kartei Jage“ ist die handschriftliche Fund-Dokumentation zu einer Sammlung des in Sachsen-Anhalt ansässigen Forschers Horst Jage, der als promovierter Biologe seit seiner Jugend in den 1950er Jahren Pflanzen vor allem in Sachsen-Anhalt intensiv kartierte. Seit Mitte der 1970er Jahre kam die Kartierung phytoparasitischer Kleinpilze dazu. Ein Teil der Sammlungsdaten wurde von ihm publiziert und floss in die „Pilzflora von Sachsen-Anhalt – Phytoparasitische Kleinpilze Teil 1: Falsche Mehltaue, Rostpilze, Brandpilze“ ein, die 2020 unter Horst Jages Federführung vom Landesamt für Umweltschutz Sachsen-Anhalt und dem Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie herausgegeben wurde. Viele der Daten waren bisher aber noch nicht digital verfügbar.

  Der Rostpilz Puccinia alnetorum fällt mit seinen dicht gedrängten orangefarbenen Sporenlager an den verkrümmten Blattstielen und Blättern der Gewöhnlichen Waldrebe (Clematis vitalba) sehr auf.  Foto: Julia Kruse

Der Rostpilz Puccinia alnetorum fällt mit seinen dicht gedrängten orangefarbenen Sporenlager an den verkrümmten Blattstielen und Blättern der Gewöhnlichen Waldrebe (Clematis vitalba) auf.

Foto: Julia Kruse

Als die Autoren und Autorinnen bei den Vorarbeiten zur neuen Roten Liste feststellten, dass viele Funddaten aus den vergangenen Jahrzehnten nur in der „Kartei Jage“ vorliegen, wurde die Digitalisierung der Kartei als prioritäre Arbeit eingestuft und entsprechend vom Rote-Liste-Zentrum gefördert.

Man mag sich fragen, warum man unter erheblichem Aufwand Daten digitalisiert, die potentiell veraltet sind, anstatt gleich aktuelle Nachweisdaten zu erheben. Die Antwort auf diese Frage liegt im Konzept der Roten Listen begründet: Um die Gefährdung einer Art einschätzen zu können, ist nicht nur deren aktuelle Bestandssituation zu berücksichtigen, sondern auch der kurzfristige und der langfristige Bestandstrend. Dafür werden – je nach Datenverfügbarkeit – Informationen aus den vergangenen 10-25 bzw. 50-150 Jahren herangezogen. Ließe man historische Fundangaben unberücksichtigt, wäre es schwierig bis unmöglich, Veränderungen abzuschätzen.

Daher sind die digitalisierten Daten aus der „Kartei Jage“ von besonderem Wert für die aktuelle, aber auch für die zukünftigen Roten Listen. Sie geben langfristig gesicherte, historische Referenzwerte für die Vorkommen vieler der in Deutschland bekannten phytoparasitischen Kleinpilze.

Eine der rd. 30.000 handschriftlichen Karteikarten im Format DIN A7. Bild: Martin Schmidt

Eine von rd. 30.000 handschriftlichen Karteikarten.

Bild: Martin Schmidt

Digitalisierung: Mehr als Fließbandarbeit

Die Digitalisierung ist kein trivialer Vorgang und hat deshalb mehrere Monate gedauert. Die analogen Daten lagen in Form von Karteikarten (DIN A7) in 15 Karteikästen vor. Die Karten enthalten neben den Fundortdaten auch Angaben zur Literatur, zur Taxonomie (z.B. Synonyme) und zu Untersuchungsergebnissen von Belegmaterial. Für jede Pilz-Wirt-Kombination wurde jeweils eine separate Karteikarte angelegt. Alle Funde zur entsprechenden Pilz-Wirt-Kombination wurden chronologisch auf einer Karteikarte registriert. Um diese Daten digital erfassen zu können, wurde jede Karteikarte fotografiert und in eine systematische Verzeichnisstruktur gebracht. Nach Abschluss der Digitalisierung steht die Kartei nun den Fachleuten dauerhaft zur Verfügung.

Rote-Liste-Zentrum unterstützt Altdatendigitalisierung

Dieses aktuelle Beispiel steht stellvertretend für viele Artengruppen mit ähnlichen Herausforderungen. Das Rote-Liste-Zentrum (RLZ) kann Artexperten und -expertinnen sowie Koordinatoren und Koordinatorinnen der Roten Listen Deutschlands dabei unterstützen, entsprechende Daten aufzubereiten und langfristig in Datenportalen verfügbar zu machen, auch durch finanzielle Förderung. Gezielte Sammlungsauswertungen und Digitalisierungen wurden und werden derzeit z.B. für die Artengruppen der Binnenmollusken (Schnecken, Muscheln), Moose, Neuropteren (Netzflügler), Asilidae (Raubfliegen), Blattodea (Schaben) sowie der Großpilze im Auftrag des Rote-Liste-Zentrums durchgeführt. Ziel dieser Projekte ist in allen Fällen, Altdaten bzw. Sammlungsdaten digital verfügbar zu machen und dauerhaft zu sichern. Dies kann entweder über Datenportale erreicht werden, die das RLZ entwickelt hat und technisch betreut, oder über andere geeignete Datenportale oder Datenbanken für eine Organismengruppe. Eine Grundbedingung ist jedoch, dass diese Datenbanken für eine Nutzung während der Erstellung der Roten Listen Deutschlands dem Bundesamt für Naturschutz, dem Rote-Liste-Zentrum und den Bearbeiter*innen der jeweiligen Roten Listen zur Verfügung stehen.

Deutschland ist weltweit das erste Land, für das eine Rote Liste der phytoparasitischen Kleinpilze vorliegt

Phytoparasitische Kleinpilze sind Pilze, die auf lebenden Pflanzen wachsen und sich vom Pflanzengewebe ernähren. Viele dieser Kleinpilze sind wirtsspezifisch, das heißt, sie kommen nur auf einer oder auf wenigen Pflanzenarten vor und haben sich an diese angepasst. Phytoparasitische Pilze sind bedeutende Regulatoren in natürlichen Lebensgemeinschaften. Zu den phytoparasitischen Pilzen gehören zum Beispiel Echte Mehltaupilze, Falsche Mehltaue, Brandpilze und Rostpilze.

Die neue Rote Liste zeigt: Der Anteil der vom Aussterben bedrohten Arten dieser Organismengruppe liegt bei 13 % und ist damit höher als bei den meisten anderen Organismengruppen. Insgesamt sind 34 % der bewerteten Arten in ihrem Bestand gefährdet und mehr als 10 % bereits ausgestorben oder verschollen. Ungefährdet sind nur 40 % der in Deutschland einheimischen 1.196 Arten. Wesentlich gefährdet sind die phytoparasitischen Kleinpilze durch den Rückgang ihrer Wirtspflanzen. Gründe dafür sind unter anderem die Nutzungsintensivierung der Landwirtschaft, Entwässerung feuchter Standorte, Aufforstung von Offenland und Versiegelung von Flächen.

Rote Liste der phytoparasitischen Kleinpilze.

Rote Liste der phytoparasitischen Kleinpilze.

Bundesamt für Naturschutz/Rote-Liste-Zentrum

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