Puzzle am Tegeler See – eine neu entdeckte Kieselalge im Blick der Biodiversitätsforschung

Kieselalgen oder Diatomeen sind nur mikroskopisch sichtbar, meist kleiner als 0,2 mm, betreiben Photosynthese wie Pflanzen und leben innerhalb gläserner, schachtelförmiger Zellwände (Kieselschalen aus Siliziumdioxid), die Jahrtausende in Ablagerungen überdauern können. Diese „Schachtellinge“, wie sie im 19. Jahrhundert auch bezeichnet wurden, sind oft ausgesprochen schön anzusehen, weshalb Kieselalgen auch bevorzugte Objekte von Mikroskopikern wurden. Diatomeen sind darüber hinaus wichtige Bioindikatoren im Gewässermonitoring. Die erst vor wenigen Jahren wissenschaftlich beschriebene Kieselalge Gomphonella tegelensis ist unsere Art des Monats November.

Filigrane Glasschale mit doppeltem Boden

Kieselalgen haben Punkte, Streifen, vielfach einen doppelten Boden und mit jedem Fortschritt der Mikroskopie werden weitere faszinierende Merkmale sichtbar. Wesentlich für die Identifizierung ist, dass das Muster auf den Silikatschalen von Art zu Art unterschiedlich ist. Viele Arten haften an Unterlagen wie Wasserpflanzen an oder können sich mit einer fadenförmigen Struktur, der sogenannten Raphe auf Oberflächen bewegen. Kein Wunder, dass Christian Gottfried Ehrenberg (1795–1876), der Berliner Pionier der Kieselalgenforschung, sie als Tierchen ansah.

Neben dem aktuellen Biomonitoring der Gewässer werden Kieselalgen auch für die Untersuchung von Sedimentkernen genutzt. Im Extremfall können ihre Ablagerungen (Kieselgur) so mächtig sein, dass Kieselalgen schon als „gebirgsbildend“ bezeichnet wurden. Anhand der Veränderungen der Diatomeenflora kann in diesen Ablagerungen wie in Archiven die Gewässerhistorie rekonstruiert werden. Im Zusammenhang der Roten Listen interessiert besonders, welche Kieselalgen im Bestand zurückgegangen sind und als gefährdet eingestuft werden müssen, weil ihre Wohngewässer verloren gehen oder infolge anthropogener Belastungen nachhaltig geschädigt sind. Aktuell trifft das auf 42 % der 2.103 in Deutschland etablierten Kieselalgen-Taxa des Süß- und Brackwassers zu.

Eine neue Art am Rande der Hauptstadt

In der deutschen Gesamtartenliste von 2018 wurde Gomphonella tegelensis noch für die ähnliche Gomphoneis transsilvanica gehalten, eine in jüngerer Zeit aus Deutschland angegebene Kieselalge, die zuvor nur aus fossilen Ablagerungen Transsylvaniens bekannt war. Diese auffällige Art wurde in den letzten Jahren auch für Berliner Seen gemeldet, während sie in Bohrkernen, die die Entwicklung der Diatomeenflora bis zur letzten Eiszeit aufzeigen, fehlte. Grund genug, die Art erstmals gründlich mikromorphologisch und molekular zu erforschen.

Die Ergebnisse der Studien waren überraschend, denn es handelte sich nicht um die fossil bekannte Alge aus Transsylvanien, die – wie wir nun wissen – gar nicht in Deutschland vorkommt und wahrscheinlich ausgestorben ist, sondern um eine morphologisch ähnliche rezente Art, die der Forschung bisher unbekannt war. Noch überraschender, dass die Alge einer Gattung zuzuordnen ist, die bereits 1853 beschrieben worden, in der Folgezeit aber in Vergessenheit geraten war. Nach dem Tegeler See, dem Ort des Erstfundes, wurde die neue Art Gomphonella tegelensis genannt. Woher sie stammt, ist noch unklar. Derzeit ist sie selten anzutreffen und sie scheint andere Arten bisher nicht zu verdrängen. Dennoch bleibt diese Alge unter Beobachtung, weil ihre Umweltansprüche und ihr Verhalten in den Lebensgemeinschaften noch nicht geklärt sind und die Art in der kommenden Roten Liste der Kieselalgen Deutschlands adäquat eingestuft werden soll.

Ein Beitrag von Wolf-Henning Kusber und Gabriele Hofmann
Dr. Gabriele Hofmann arbeitet seit ihrer Promotion über die Eignung von Diatomeen als Indikatoren der Trophie als freiberufliche Diatomologin im Umweltmonitoring und als Fachbuchautorin.
Wolf-Henning Kusber ist Phykologe und Datenkurator am Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin, Freie Universität Berlin und arbeitet zur Taxonomie und Nomenklatur der Mikroalgen, Forschungsgruppe Diatomeen.
Beide Autoren haben bei der Erstellung aktueller Roten Listen der Algen (Hofmann et al. 2018, Kusber & Gutowski 2018) mitgewirkt und arbeiten zurzeit in dem Unterstützungsprojekt zur Erstellung der neuen Roten Liste der Kieselalgen und Zieralgen.

Rote Liste und Literatur zum Artikel

Rote Liste und Gesamtartenliste der limnischen Kieselalgen (Bacillariophyta) Deutschlands

Hofmann, G.; LangeBertalot, H.; Werum, M. & Klee, R. unter Mitarbeit von König, C.; Kusber, W.H.; Metzeltin, D. & Reichardt, E. 2018: Rote Liste und Gesamtartenliste der limnischen Kieselalgen (Bacillariophyta) Deutschlands. – In Metzing, D.; Hofbauer, N.; Ludwig, G. & Matzke-Hajek, G. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands. Band 7: Pflanzen. Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (7): 601 708. (Landwirtschaftsverlag, Münster).

Weitere Literatur

Jahn, R.; Kusber, W.-H.; Skibbe, O.; Zimmermann, J.; Van, A.T.; Buczkó, K. & Abarca, N. 2019: Gomphonella olivacea (Bacillariophyceae) – a new phylogenetic position for a well-known taxon, its typification, new species and combinations. – Plant Ecology and Evolution 152(2): 219 - 247.
DOI

Skibbe, O.; Zimmermann, J.; Kusber, W.-H.; Abarca, N.; Buczkó, K. & Jahn, R. 2018: Gomphoneis tegelensis sp. nov. (Bacillariophyceae): a morphological and molecular investigation based on selected single cells. – Diatom Research 33(2): 251 - 262.
DOI

Rasterelektronenmikroskopische Abbildung einer präparierten Kieselschale von Gomphonella tegelensis mit Blick in das Innere einer Schachtelhälfte. Der schwarze Balken entspricht 10 µm (0,01 mm).  Foto: Oliver Skibbe, Juliane Bettig, Forschungsgruppe Diatomeen, Botanischer Garten u. Botanisches Museum Berlin, Freie Universität Berlin

Rasterelektronenmikroskopische Abbildung einer präparierten Kieselschale von Gomphonella tegelensis mit Blick in das Innere einer Schachtelhälfte. Der schwarze Balken entspricht 10 µm (0,01 mm).

Foto: Oliver Skibbe, Juliane Bettig, Forschungsgruppe Diatomeen, Botanischer Garten u. Botanisches Museum Berlin, Freie Universität Berlin.