Spuren im Sand: Ein Ökosystemingenieur am Werk

Wer schon einmal im Watt zu Fuß unterwegs war, kennt die weiten Rippelfelder des Sandwatts, übersät mit unzähligen kleinen Hügeln aus Sandschnüren und trichterförmigen Löchern. Hier lebt und gräbt der Pierwurm, auch Köderwurm genannt. Sein Name ist Programm: Der Wurm wird gerne zum Angeln verwendet. Zusammen mit der Gemeinen Wattschnecke, der Herzmuschel, der Gemeinen Strandkrabbe und der Nordseegarnele gehört der Pierwurm zu den „Small five“, den fünf wichtigsten kleinen wirbellosen Arten des Wattenmeeres. Der Pierwurm ist unsere Art des Monats Juli.

Ein Leben im Untergrund

Arenicola marina, der dabei ist, sich einzugraben. Foto: Nehmer, BioConsult.

Pierwurm, der dabei ist, sich einzugraben.

Foto: Petra Nehmer, BioConsult.

Ähnlich wie ein Regenwurm frisst der Pierwurm (Arenicola marina) Sediment und scheidet es in Form von Kotschnüren wieder aus. Anders als bei dem Landbewohner ist der Körper des Pierwurms jedoch in drei Teile gegliedert: das Vorderende mit dem Rüssel und langen Borsten, die Kiemenregion mit hellroten, stark durchbluteten Kiemen, und das schmalere borstenlose Hinterende. Der Pierwurm gehört zu den sogenannten vielborstigen Würmern (Polychaeta) und damit zu den Ringelwürmern (Annelida).

Der Pierwurm baut eine bis zu 40 cm tief in den Boden reichende U-förmige Wohnröhre – er ist sozusagen sesshaft. Auf einer Seite der Röhre frisst der Wurm beständig Sediment, wodurch die charakteristischen Fraßtrichter entstehen. Auf der anderen Seite wird das Hinterende zur Kotabgabe etwa alle 45 Minuten an die Bodenoberfläche geschoben. So entstehen die an der Sedimentoberfläche sichtbaren Kotschnüre. Durch Pumpbewegungen sorgt der Wurm für einen starken Wasserstrom, der seine Kiemen mit sauerstoffreichem Wasser versorgt und gleichzeitig den Boden belüftet.

Der Wattwurm – ein Ökosystemingenieur

Eine Wohnröhre von Arenicola marina. Die durch sauerstoffreiches Wasser belüftete Röhrenwand grenzt sich deutlich vom umgebenden, dunklen weil sauerstoffarmen Sand ab. Foto: BioConsult.

Eine Wohnröhre von Arenicola marina. Die durch sauerstoffreiches Wasser belüftete Röhrenwand grenzt sich deutlich vom umgebenden, dunklen weil sauerstoffarmen Sand ab.

Foto: BioConsult.

Arten, die die Fähigkeit haben, durch ihre Lebensweise ihren Lebensraum maßgeblich zu beeinflussen und zu verändern, werden als ‚Ökosystemingenieure‘ bezeichnet. Der Pierwurm gehört dazu: Arenicola marina frisst Sediment und gräbt dadurch beständig den Boden um.

Dies wird auch als „Bioturbation“ bezeichnet. Durch die Fressaktivität bleibt in Sandwatten eine dauerhaft lockere Bodenstruktur erhalten, die besonders im Boden lebende und fressende Arten fördert, wie z. B. den ebenfalls für das Wattenmeer typischen Kiemenringelwurm Scoloplos armiger. Weiterhin sorgt der Pierwurm über den Wasseraustausch in seiner Wohnröhre für eine Sauerstoffanreicherung im sonst sauerstofflosen (anoxischen) Sediment des Wattbodens.

So schafft er gute Bedingungen für z.B. den Flohkrebs Urothoe poseidonis, Plattwürmer (Platyhelminthes) oder Ruderfußkrebse (Copepoden). Für Seegras (Zostera marina) dagegen ist seine Lebensweise eher abträglich: Das permanente Umgraben des Bodens verhindert, dass sich Seegras in dichten Beständen von Arenicola marina neu etablieren kann.

Die Rolle des Pierwurms im Nahrungsnetz und seine Verbreitung

Durch seine hohe Biomasse ist Arenicola marina ein wichtiger Bestandteil des Nahrungsnetzes im Wattenmeer. Die Tiere können bis zu 30 cm groß werden und mit bis zu 40 Individuen pro m² vorkommen, in Ansiedlungen von Jungtieren können es bis zu 200 Individuen pro m² sein.

Je dicker eine Kotschnur ist, desto älter und größer ist der Wurm, der sich darunter verbirgt. Foto: BioConsult.

Je dicker eine Kotschnur ist, desto älter und größer ist der Wurm, der sich darunter verbirgt.

Foto: BioConsult.

Pierwürmer haben viele Fressfeinde: Bei Niedrigwasser sind es Watvögel wie Austernfischer, Schnepfen und Brachvögel, bei Hochwasser Plattfische und Strandkrabben. Besonders der Moment der Kotabgabe ist gefährlich für die Würmer. Nicht selten reißen dabei aber nur die letzten Körpersegmente ab. Der Wurm kann die Verletzung überleben und sein Hinterende regenerieren.

Der Pierwurm ist entlang der ostatlantischen Küsten von Spanien über Frankreich und die Britischen Inseln bis nach Island verbreitet. Außerdem besiedelt er die gesamte Nordseeküste bis Norwegen, das Weiße Meer und die westliche Ostsee. Sein Vorkommensschwerpunkt liegt auf den sandigen Flächen der Gezeitenzone, obwohl er auch in permanent überfluteten Bereichen wie z.B. den Prielen leben kann.

 

Es gibt eine nahverwandte Art (Arenicola defodiens), die im niederländischen Teil des Wattenmeeres, an der belgischen Küste, in Nordfrankreich und Großbritannien nachgewiesen wurde. Entsprechende Angaben fehlen für die deutsche Nordseeküste noch.

Der Wattwurm und der Mensch

Traditionell und auch heute noch werden Wattwürmer als Fischköder verwendet. Dazu werden die Würmer, teilweise in großem Stil, bei Niedrigwasser ausgegraben. Der kommerzielle Wert kann beträchtlich sein. Je nachdem wie hoch der Ausbeutungsdruck ist, kann es zu negativen Folgen für den Wattwurmbestand und für mit dem Wurm assoziierte Arten kommen. Mittlerweile wird über eine Einführung von Bestandsschutzmaßnahmen diskutiert.

Von großem Interesse sind die Würmer heutzutage auch für die medizinische Forschung. Sie werden wegen ihres Hämoglobins gezüchtet, das als Blutersatzstoff in der Transplantationsmedizin verwendet wird.

Der Pierwurm (Arenicola marina) ist in der Roten Liste der bodenlebenden wirbellosen Meerestiere Deutschlands (noch) als „ungefährdet“ verzeichnet, siehe dazu den Steckbrief mit den wichtigsten Daten aus der Roten Liste.

Ein Beitrag von Petra Nehmer und Carmen-Pia Günther
Dipl.-Biologin Petra Nehmer ist seit 2018 Mitarbeiterin bei BioConsult. Neben der taxonomischen Ansprache ist sie für die Qualitätssicherung im Bereich des marinen Makrozoobenthos zuständig.
Dr. Carmen-Pia Günther arbeitet seit 2001 für BioConsult. Schwerpunkte sind dabei die Taxonomie, Erfassung und Bewertung von Makrozoobenthosbeständen in Nord- und Ostsee.
Beide Autorinnen haben bei der Erstellung der aktuellen Roten Liste (Rachor et al. 2013) mitgewirkt und arbeiten zurzeit in dem Unterstützungsprojekt zur Erstellung der neuen Roten Liste der bodenlebenden marinen Wirbellosen (Makrozoobenthos) mit.

Rote Liste

Rachor, E.; Bönsch, R.; Boos, K.; Gosselck, F.; Grotjahn, M.; Günther, C.-P.; Gusky, M.; Gutow, L.; Heiber, W.; Jantschik, P.; Krieg, H.-J.; Krone, R.; Nehmer, P.; Reichert, K.; Reiss, H.; Schröder, A.; Witt, J. & Zettler, M.L. (2013): Rote Liste und Artenlisten der bodenlebenden wirbellosen Meerestiere. – In: Becker, N.; Haupt, H.; Hofbauer, N.; Ludwig, G. & Nehring, S. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 2: Meeresorganismen. – Münster (Landwirt­schaftsverlag). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (2): 81-176.

Die Rote-Liste-Daten sind auch als Download verfügbar.

Literatur

De Cubber, L. (2019). Study of the life-history traits of two species of polychaetes, Arenicola marina and A. defodiens, implementation of a Dynamic Energy Budget model and conservation of the species. Doktorarbeit Universität Lille, 166 S.

Krüger F. (1971). Bau und Leben des Wattwurmes Arenicola marina. Helgoländer wissenschaftliche Meeresuntersuchungen 22, 149-200.

Reise K. (1987). Spatial niches and long-term performance in meiobenthic Plathelminthes of an intertidal lugworm flat. Marine Ecology Progress Series 38, 1-11.

Reise, K., Simon, M. & Herre, E. (2001): Density-dependent recruitment after winter disturbance on tidal flats by the lugworm Arenicola marina. Helgoland Marine Research 55(3), 161–165.

Rousselot, M., Delpy, E., Drieu La Rochelle, C., Lagente, V., Pirow, R., Rees, J.-F., Hagege, A., Le Guen, D., Hourdez, S. & Zal, F. (2006). Arenicola marina extracellular hemoglobin: a new promising blood substitute. Biotechnology Journal 1(3), 333-45.

Volkenborn, N., Robertson, D.M. & Reise, K. (2009). Sediment destabilizing and stabilizing bio-engineers on tidal flats: cascading effects of experimental exclusion. Helgoland Marine Research 63 (1), 27–35.

Sandwatt mit Rippelmarken sowie mit Fraßtrichtern und Kothaufen des Pierwurms, Arenicola marina. Foto: BioConsult

Sandwatt mit Rippelmarken sowie mit Fraßtrichtern und Kothaufen des Pierwurms, Arenicola marina.

Foto: BioConsult

Pierwurm, auch Sandpier oder Köderwurm genannt

(Arenicola marina)

Rote-Liste-Kategorie: Ungefährdet